Offene Fragen aus Sicht der Verkehrspsychologie

Angesichts der zunehmenden Bestrebungen in vielen Ländern, Cannabis zu legalisieren, entstehen Bedenken hinsichtlich einer möglichen Zunahme cannabisbeeinflusster Fahrten, einem damit verbundenen potenziell erhöhten Unfallrisiko sowie schädlicher Auswirkungen auf das Gesundheitssystem. Die Frage, welche Folgen tatsächlich zu erwarten sind, ist bislang weitgehend un- geklärt. Vor diesem Hintergrund untersuchte die „Deutsche Gesellschaft für Verkehrspsychologie“ (DGVP) in einem systematischen Review die potenziellen Auswirkungen der Gesetzesinitiative der Bundesregierung zur Legalisierung von nicht medizinischem Cannabis auf Verkehrssicherheit und Gesundheitswesen (Fastenmeier & Söllner, 2023).

Um eine objektive und vorurteilsfreie Darstellung des Forschungsstands zu gewährleisten, wurden alle betrachteten Studien anhand eines Kriterienkatalogs analysiert. Dieser umfasste Aspekte wie die Sorgfalt bei der Erstellung der Versuchspläne, das Alter und den Zeitpunkt der Studie, die Wahl der abhängigen Variable, die Einhaltung statistischer Konventionen und Interpretationsregeln sowie eine kritische Einordnung und Diskussion der Ergebnisse. Ziel war es, methodische Schwächen, Daten- und Ergebnisverzerrungen herauszuarbeiten, um die Validität der Studien zu bewerten. Dabei wurden auch die Aussagekraft, Relevanz und Übertragbarkeit der Ergebnisse geprüft. In die Endbewertung gingen 76 Studien ein.

Um ein umfassendes Bild zu erhalten, sind verschiedene Risikokennwerte im Bereich Verkehrssicherheit berücksichtigt worden. Dazu gehören Unfallraten, Zahlen von Verletzten und Getöteten sowie Hospitalisierungsraten in Kliniken. Darüber hinaus sind nicht nur cannabisbezogene Verkehrsverstöße, sondern auch die Auswirkungen der Cannabislegalisierung auf das Gesundheitssystem untersucht worden. Hierbei spielen insbesondere Aspekte wie die Konsumprävalenz, die Anzahl cannabisbedingter Behandlungen, die Behandlungskosten, Komorbiditäten und Diagnosen eine Rolle. Zudem werden die damit verbundenen Effekte auf die Marktentwicklung wie Preis, Wirkstoffgehalt, Verfügbarkeit und Distributionswege analysiert. Der vorliegende Beitrag gibt einen kurzen Überblick zur Studie.

Wirkung von Cannabis

Unter „Cannabiskonsum“ wird im Folgenden (sofern nicht anders angegeben) immer der Eigenkonsum von nicht medizinischem Cannabis verstanden, nicht jedoch der von medizinischem Cannabis zu therapeutischen Zwecken. Cannabis besteht aus getrockneten Blütenspitzen und Blättern, Cannabisharz ist eine Pressmasse aus den harzigen Teilen der Pflanze, und Cannabisöl ist ein Lösungsmittelextrakt aus Cannabis. Cannabis wird fast ausschließlich geraucht, oft vermischt mit Tabak. Die Aufnahme bzw. Freisetzung des psychoaktiven Cannabiswirkstoffes Delta9-Tetrahydrocannabinol (THC) erfolgt daher überwiegend respiratorisch. Der am häufigsten nachgewiesene Metabolit ist THC-Carbonsäure (THC-COOH), ein pharmakologisch inaktives Stoffwechselprodukt von THC. Ein Nebenaspekt in der weiteren Analyse der Cannabisstudien ist die orale Aufnahme von Cannabis etwa über Lebensmittel (sogenannte »Edibles«). Der Konsum von Drogen, in diesem Fall Cannabis, ist grundsätzlich ein Wirkungs- oder Rauschkonsum. Die Konzentration von THC in Blut, Speichel etc. erreicht kurz nach dem Konsum ihren Höhepunkt, fällt dann relativ rasch innerhalb von zwei bis drei Stunden ab, ist aber oft noch viele Stunden später, bei regelmäßigem Konsum mit intensivem Konsumverhalten auch noch Tage oder Wochen später nachweisbar (Odell, Frei, Gerostamoulos, Chu & Lubman, 2015; Spindle et al., 2019; vgl. Abbildung 1).

Die Wirkungen von Cannabis sind vielfältig. Sie können prinzipiell therapeutisch sein (was in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung ist), im Vordergrund steht jedoch die Rauschwirkung. Dazu gehören:

  • Stimmungsaufhellungen
  • Euphoriegefühle
  • tiefe Entspannungsgefühle
  • Wahrnehmungsveränderungen (Musik, Farben, Geschmack, Zeitgefühl)
  • Redseligkeit

Dem steht eine Reihe von unerwünschten bzw. Nebenwirkungen gegenüber, da Cannabis bei längerem und hochdosiertem Gebrauch zu Abhängigkeit, Toleranz- und Entzugserscheinungen führen kann. Typische Nebenwirkungen sind (zusammengefasst nach Schmidbauer & vom Scheidt, 2004):

  • Beeinträchtigung des Denk-, Lern- und Erinnerungsvermögens
  • Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit
  • Beeinträchtigung der psychomotorischen Leistungsfähigkeit, Ataxie, Tremor
  • Apathie, Müdigkeit
  • Augenrötung, trockene Augen, Weitstellung der Pupillen
  • Mundtrockenheit, gesteigerter Appetit, Übelkeit und Erbrechen
  • kardiovaskuläre Probleme wie Vasodilatation, niedriger Blutdruck, Tachykardie, Synkopen
  • Effekte des Rauchens wie Husten, Bronchitis, möglicherweise Lungenkrebs
  • mögliche Begünstigung psychotischer Störungen

Für den Hauptwirkstoff des Cannabis THC existieren keine eindeutigen Konzentrations-Wirkungs-Beziehungen (Skopp, Graw & Mußhoff, 2022). Wie Tönnes (2022) ausführt, ist die Toxikokinetik von THC äußerst komplex, und Konzentrationszeitverläufe sind weder vorhersehbar noch berechenbar. Daldrup und Hartung (2022) bestätigen diese Einschätzungen in einer Literaturübersicht zur Diskussion um neue THC-Grenzwerte: Die Kenntnis der Dosis eines Cannabisproduktes lasse keine hinreichend sicheren Rückschlüsse auf die THC-Konzentration im Blutserum zu. Zudem gebe es keine neuen Erkenntnisse zu den Zusammenhängen zwischen THC-Dosis, der Konzentration im Blut und daraus resultierenden Einflüssen auf die Fahrsicherheit gegenüber dem Stand von 2004. Ähnliche oder gleichlautende Einschätzungen finden sich auch in der internationalen Literatur (siehe z. B. Huestis & Smith, 2018, zitiert nach White & Burns, 2022; Spindle et al., 2019). Hier zeigt sich auch folgende grundsätzliche Problematik bei der Verwendung von Biomarkern wie THC: Sie werden als „Quasi-Diagnostikum“ eingesetzt, aber in ihrer Anwendung missverstanden, da ihre Limitationen (von Messfehlern bis hin zur Problematik des „Residual-THC“) nicht immer adäquat berücksichtigt werden. Zudem sind experimentelle Ergebnisse aus kontrollierten Laborumgebungen nur sehr schwer auf „real world settings“ – im vorliegenden Fall also die Verkehrsrealität – übertragbar.

Bei regelmäßiger Einnahme von Cannabis spielen Personfaktoren wie Adaptionsprozesse, Toleranzentwicklung und die individuell unterschiedliche Wirkungsintensität eine wesentliche Rolle. Das Verkehrsrisiko unter Cannabiseinfluss hängt weniger vom Wirkstoffspiegel ab als von folgenden Faktoren (DGVP/DGVM, 2018):

  • Motiv der Einnahme bzw. des Konsums und Wirkungserwartung
  • allgemeine psychophysische Leistungsfähigkeit
  • Toleranz und Gewöhnung
  • Anpassungsbereitschaft der Person und Bereitschaft zu risikovermeidendem Verhalten und/oder
  • Wahrnehmung und Beurteilung riskanter Verkehrssituationen

Unser Seminarangebot passend zum Thema

Prävalenz von Cannabisnutzung

Die Einordnung von Cannabis als „Lifestyle-Droge“ (Wagner & Müller, 2022) resultiert vor allem aus seiner weltweit höchsten Verbreitung im Konsumverhalten im Vergleich zu anderen Drogen. Die Prävalenzzahlen variieren erheblich zwischen europäischen Ländern (EMCCDA, 2022). Zum Beispiel reicht die Lebenszeitprävalenz bei Erwachsenen von 4 % in Malta bis zu etwa 45 % in Frankreich. Die Jahresprävalenz in Europa beträgt bei Personen im Alter von 15 bis 64 Jahren etwa 7,7 %. Bei Personen im Alter von 15 bis 34 Jahren liegt sie bei etwa 15,4 %. Dabei variiert die Spanne von 3,4 % in Ungarn bis zu 21,8 % in Frankreich.

Abbildung 1. Idealtypischer Konzentrationsverlauf von Cannabis bei gelegentlichen und chronischen Nutzern (Darstellung nach Mußhoff, 2022)

Gemäß anderen demografischen Erhebungen konsumieren etwa 1,8 % der 15- bis 64-jährigen Erwachsenen in der Europäischen Union täglich oder fast täglich Cannabis. Die Mehrheit (61 %) der Nutzer ist jünger als 35 Jahre und hat die Droge im letzten Monat an mindestens 20 Tagen verwendet (alle Daten nach EMCCDA, 2022).

Erfahrungen mit Cannabiskonsum sind in der Regel auf kurze Lebensphasen beschränkt. Dies verdeutlicht die deutliche Diskrepanz zwischen Lebenszeitprävalenz und Prävalenz des letzten Monats (siehe Tabelle 1). Die berichteten Prävalenzzahlen müssen generell mit Vorsicht interpretiert werden, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie durch sozial erwünschte Antworttendenzen verzerrt sind.

Auswirkungen von Cannabislegalisierung auf das Gesundheitssystem

Was zeigt die Auswertung der Studien hinsichtlich der Auswirkungen von Cannabislegalisierung auf das Gesundheitssystem?

  • Die Datenlage ist insgesamt dünn und uneinheitlich, die Zuverlässigkeit der erhobenen Daten ist häufig zweifelhaft; es mangelt an aussagekräftigen und methodisch sauberen Studien. Da nur wenige aussagekräftige Ergebnisse vorliegen, lassen sich im besten Falle Trends ableiten.
  • Die Frage nach der Preisentwicklung von Cannabisprodukten kann nicht klar beantwortet werden. Der prognostizierte Preisverfall scheint nicht eingetreten zu sein, bzw. die Durchschnittspreise scheinen eher moderat gesunken zu sein. Verschiedentlich wird auch von Preissteigerungen berichtet. Die legalen Verkaufsstellen stehen weiterhin in Konkurrenz zum Schwarzmarkt.
  • Der Wirkstoffgehalt – zumindest jener von Cannabisharzen – ist gestiegen. Der Markt hält also potentere Produkte vor, was für die Nutzer nicht unmittelbar erkennbar ist. Ebenso nicht transparent ist für sie die Zunahme synthetischer Cannabinoide, deren Anteil allerdings schwer zu quantifizieren ist.
  • Die Legalisierung von Cannabis führt bei den bisherigen Nutzern zu einem Anstieg des Marihuanakonsums. Darüber besteht in der Literatur ein relativ breiter Konsens. Dieser Anstieg betrifft in erster Linie Erwachsene ab einem Alter von etwa 26 Jahren, nicht aber die Gruppe der Jugendlichen. Letzteres könnte als positive Entwicklung gewertet werden.
  • in Anstieg der Prävalenzrate bei neuen Nutzern ist lediglich punktuell zu beobachten. Es steht zu vermuten, dass die legale Cannabisindustrie versuchen wird, sowohl die Zahl der Kunden als auch die Regelmäßigkeit des Konsums zu steigern, um Profite zu maximieren.
  • Hinsichtlich der Frage nach cannabisbedingten Behandlungsaufnahmen, Krankenhausaufenthalten und Hospitalisierungen (problematischer Konsum, Abhängigkeit) lässt sich kein eindeutiger Trend erkennen. Zwar sind psychiatrische Diagnosen bei Jugendlichen häufig und es besteht ein starker Zusammenhang zwischen einem frühen Beginn des Cannabiskonsums und dem Risiko, eine Psychose zu entwickeln, die Legalisierung scheint sich in dieser Hinsicht aber bisher nicht negativ ausgewirkt zu haben, da keine Zunahme des Cannabiskonsums bei Jugendlichen festzustellen ist. Da Jugendliche aber in ihrer biologischen und sozialen Entwicklung durch Cannabiskonsum besonders gefährdet sind, könnte sich hier langfristig ein zumindest geringer negativer Effekt bemerkbar machen.
  • Der gleichzeitige Konsum von Alkohol und Marihuana hat abgenommen. Es scheint eine Verlagerung des Konsums vom öffentlichen in den privaten Raum stattzufinden. Auch beim Alkoholkonsum ist generell ein Rückgang zu verzeichnen. Eine Ausnahme bilden hier die sogenannten „binge drinkers“.
  • Hinsichtlich der Kriminalitätsraten ist das Bild weniger eindeutig. Der Trend scheint jedoch in Richtung eines Rückgangs der cannabisbezogenen Kriminalität zu gehen. Der Zusammenhang zwischen Cannabislegalisierung und Kriminalitätsraten bleibt insgesamt vage.
  • Tendenziell scheint die Cannabislegalisierung mit einem Rückgang opioidbezogener Verschreibungen und Todesfälle einherzugehen.

Da der Zeitpunkt der Cannabislegalisierung in den betrachteten Ländern erst wenige Jahre zurückliegt, können die festgestellten eher moderaten Effekte hinsichtlich der Auswirkungen auf das Gesundheitssystem primär als Kurzzeiteffekte betrachtet werden, die nicht unbedingt auf langfristige Auswirkungen schließen lassen. Eine Ausnahme stellt hier das erhöhte Steueraufkommen der beteiligten Staaten dar. Eine verlässliche Aussage darüber, ob der erleichterte Zugang zu günstigeren, potenteren Cannabisprodukten in Zukunft sowohl die Zahl regelmäßiger Nutzer erhöht als auch neue Gruppen von Konsumenten generiert, wird vermutlich erst in einer Dekade möglich sein. Vor diesem Hintergrund und angesichts der nur bedingt zuverlässigen Datenlage sollten bei zukünftigen Evaluationen folgende Aspekte berücksichtigt werden:

D-A-CH-RaumLebenszeitprävalenzJahresprävalenzMonatsprävalenz
Deutschland (Orth & Merkel, 2022)50,8%25%12%
Österreich (Busch et al., 2021)24%17%7%
Schweiz (BAG, 2021)33%7,7%4%
Tabelle 1 Prävalenzzahlen in Zusammenhang mit Cannabiskonsum im D-A-CH-Raum
  • Erhebung von cannabisbezogenen Verkaufszahlen und Preisen, Wirkstoffgehalt von Cannabis;
  • Erfassung der Prävalenz des Cannabiskonsums bei Jugendlichen und Erwachsenen mit Hilfe von Haushaltsbefragungen und Panels in Bildungseinrichtungen;
  • systematische Erfassung von Krankenhauseinweisungen, Art der Behandlung und Komorbiditäten;Ermittlung der Prävalenz des regelmäßigen Cannabiskonsums unter Jugendlichen in psychiatrischen und verwandten Einrichtungen;
  • systematische Erfassung von cannabisbezogenen Kriminalitätsraten.

Analysen zum Unfallgeschehen im Zusammenhang mit Cannabis

Zur Analyse des Unfallgeschehens in Verbindung mit Cannabiskonsum wurden verschiedene Metaanalysen einbezogen. Diese liefern unterschiedliche, zum Teil disparate Ergebnisse. Sie reichen von einer Risikoreduktion bis hin zu exorbitanten Erhöhungen des Unfallrisikos. Eine Reihe der berechneten Odds Ratios (OR) verfehlt zudem die statistische Signifikanz. Es erscheint unwahrscheinlich, dass die große Spannbreite in den OR der untersuchten Studien ein Zufallsergebnis ist, vielmehr deutet sie auf eine mangelnde Validität vieler Studien hin.

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Cannabiskonsum erhöht das Unfallrisiko leicht bis moderat (OR = 1,32, nach Rogeberg, Elvik und White, 2018). Insgesamt deuten die Ergebnisse der Metaanalysen also angesichts dieses nahezu vernachlässigbaren Wertes darauf hin, dass das Fahren unter Cannabiseinfluss nur einen geringen Einfluss auf das Gesamtunfallgeschehen hat. Daraus könne jedoch laut Rogeberg et al. (2018) nicht geschlossen werden, dass das Fahren unter Cannabis- einfluss ungefährlich sei, da es eine kleinere Gruppe von Fahrern gebe, die regelmäßig hohe Dosen konsumiere und ein deutlich höheres Risiko aufweise.

Preuss et al. (2021) kommen in ihrer Übersichtsarbeit zu dem Schluss, dass akuter Cannabiskonsum zu einer geringen, aber signifikanten Erhöhung des Unfallrisikos führt. Ramaekers (2018) berichtet ebenfalls, epidemiologische Studien würden nahelegen, dass der Konsum von Cannabis mit einem moderat erhöhten Unfallrisiko verbunden sei. Er betont jedoch, dass dieser Effekt geringer ausfalle als in experimentellen Studien vorhergesagt.

Auswirkungen von Legalisierung und Entkriminalisierung auf die Verkehrssicherheit

Die Arbeiten, die sich mit den Auswirkungen der Legalisierung und Entkriminalisierung von Cannabiskonsum auf die Verkehrssicherheit auseinandergesetzt haben, sind vorwiegend epidemiologische, Fall-Kontroll- und Beobachtungsstudien. Bei der Analyse der Herkunft der Evaluationsstudien unter Berücksichtigung der weltweit unterschiedlichen Gesetzgebungen fällt auf, dass sich die Untersuchungen hauptsächlich auf wenige Kontinente oder Staaten konzentrieren. Der Großteil der Evaluationen stammt aus Nordamerika, bedingt durch die frühere Legalisierung und Entkriminalisierung im Vergleich zu anderen Regionen, während es kaum europäische Studien gibt. In Kanada und den Vereinigten Staaten liegt die Freigabe von Cannabis oder medizinischem Cannabis in der Verantwortung der Regierungen der jeweiligen Provinzen oder Bundes- staaten. Dies führt zu einem vielfältigen Muster unterschiedlicher Regelungen. Dies bietet die Möglichkeit, die Auswirkungen verschiedener Regelungen auf die Verkehrssicherheit innerhalb eines Landes – im Sinne einer Experimental- und Kontrollgruppenstudie – oder in direkter Gegenüberstellung zweier Regelungen miteinander zu vergleichen.

Die gewählten Versuchspläne und die erhobenen Daten weisen eine erhebliche Vielfalt auf. Die meisten Studien sind von methodischen Einschränkungen betroffen, wie sie in der angewandten Forschung häufig auftreten. Die berechneten OR erlauben zudem keine Ableitung von Kausalität, insbesondere da es einen dritten Faktor geben könnte, der beide Merkmale beeinflusst oder konfundiert. Daher lässt sich lediglich feststellen, dass ein möglicher Zusammenhang zwischen der Legalisierung von Cannabis und dem Unfallgeschehen besteht.

Gemäß White (2017) sowie White und Burns (2022) können in diesem Zusammenhang vier Arten von Methodenfehlern identifiziert werden:

  1. Konfundierungsfehler („confounding bias“, z. B. fehlende Berücksichtigung von Alter, Tageszeit, Mischkonsum): Dieser Fehler geht mit einem schwach mittleren Effekt auf das cannabisbezogene OR einher.
  2. Selektionsfehler („selection bias“): Selektionsfehler führen zu einem weitaus stärkeren Effekt auf das OR als Konfundierungsfehler. Ein OR von 1.00 kann durch Selektionsfehler leicht auf 1.50 oder mehr ansteigen, da beispielsweise eine unangemessene Auswahl der Fall- und Kontrollgruppen zu einer massiven Verzerrung der Prävalenz der Expositionsvariablen (Präsenz von THC) führen kann.
  3. Messfehler („measurement bias“ oder „low thres- hold bias“): Diese Fehler beziehen sich in der Regel auf die Expositionsvariable (z. B. Art und Zeitpunkt der THC-Messung) im Verhältnis zur Unfallrate und haben einen mittelstarken Effekt auf das OR.
  4. Publikationsfehler („publication bias“, z. B. „cherry- picking“ bei der Analyse vorhandener Studien).

In den betrachteten Studien fungiert nahezu immer ein Unfallmaß als abhängige Variable, während die unabhängige Variable(n) die Art der Cannabislegalisierung repräsentieren. Die Verkehrssicherheit wird somit durch das Unfallkriterium bestimmt, welches im Allgemeinen einen hohen Plausibilitätswert aufweist (Klebelsberg, 1982). Es ist jedoch nur dann sinnvoll einsetzbar, wenn große Kollektive über längere Zeiträume hinweg untersucht werden. Das liegt an seiner Eigenschaft als statistisch seltenes Ereignis und den damit verbundenen ungünstigen psychometrischen Eigenschaften (vgl. dazu ausführlich Gstalter & Fastenmeier, 2021).

Außerdem wird das Unfallereignis oft als abhängige Variable in verschiedenen Parametrisierungen verwendet. Die Daten zu Unfällen stammen in der Regel von Behörden und gelegentlich von Versicherungen oder aus Befragungen von Stichproben. Oftmals werden nur tödliche Unfälle ausgewertet, manchmal jedoch alle Unfälle mit Personenschaden oder sogar alle registrierten Kollisionen berücksichtigt. Die Beschränkung auf tödliche Unfälle hat Vor- und Nachteile: Einerseits sind diese Ereignisse besonders sorgfältig dokumentiert und werden kaum durch Dunkelziffern verzerrt. Andererseits machen sie nur einen geringen Anteil der Gesamtinformation aus, die in Unfallstatistiken enthalten ist.

Die meisten Studien vergleichen verschiedene Gesetzgebungen, z. B. in unterschiedlichen Bundesstaaten der USA. Dabei werden die Unfallzahlen in den analysierten Staaten erfasst, Indizes berechnet und in der Regel mit statistischen Methoden verglichen, um aufzuzeigen, welche Regelung welche Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit hat. Diese Herangehensweise setzt voraus, dass mögliche Unterschiede in der Unfallbilanz tatsächlich auf die verschiedenen Regelungen zurückzuführen sind. Hierfür müssen alle anderen plausiblen Erklärungen für Unterschiede zwischen den Gruppen ausgeschlossen oder zumindest statistisch erfasst und kontrolliert werden können.

Trotz der räumlichen Nähe zwischen den Staaten lassen sich viele Unterschiede in verkehrssicherheitsrelevanten Variablen feststellen, insbesondere im Hinblick auf Regelungen zur Gurtpflicht, Alkoholgesetzgebung oder zu Höchstgeschwindigkeiten innerhalb der USA. Daher ist es wichtig zu prüfen, ob andere Risikofaktoren, wirtschaftliche Entwicklungen und zusätzliche Kovariaten berücksichtigt wurden. Zudem stellt sich die Frage nach den direkten oder indirekten Effekten der betrachteten Regelungen. Die meisten Studien konzentrieren sich auf die direkten Auswirkungen der Legalisierung von Cannabis. Eine Legalisierung könnte jedoch auch indirekt das Unfallrisiko beeinflussen, z. B. durch eine Reduzierung des Alkohol- und Opioidkonsums.

Eine Vielzahl von Studien aus den USA basiert auf dem „US Fatality Analysis Reporting System“ (FARS), das jährlich Daten zu tödlichen Unfällen in den USA erhebt. Allerdings stehen insbesondere die drogenbezogenen Informationen dieser Datenbank unter erheblicher Kritik. Es wird z. B. keine Unterscheidung zwischen THC und Nicht-THC-Cannabinoiden vorgenommen, und es ist nicht klar, ob zum Zeitpunkt des Unfalls tatsächlich eine Beeinträchtigung durch Cannabis vorlag. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesstaaten bezüglich der Testpraktiken für Cannabis. Dazu zählen die Auswahl der getesteten Personen, die Entscheidung, ob überhaupt auf Cannabis getestet wird, die angewandten Testmethoden (Urin, Blut, Speichel) und die verwendeten Cut-off-Werte. Die „National High-way Traffic Safety Administration“ (NHTSA) hat selbst eingeräumt, dass die Informationen des FARS bezüglich Drogen nicht als zuverlässig und geeignet betrachtet werden können, um Schlussfolgerungen über Beeinträchtigungen, Unfallursachen bei Cannabis oder gar Vergleiche mit Alkohol zu ziehen (Berning & Smither, 2014; Compton & Berning, 2015).

Die Frage, wie sich die Legalisierung und Entkriminalisierung von Cannabis auf das Unfallgeschehen auswirkt, ist aufgrund der methodischen Probleme vieler Studien und der heterogenen und widersprüchlichen Forschungslage somit schwierig zu beantworten. Ein klarer Trend ist kaum erkennbar. Die bewerteten Studien zeigen unterschiedliche Auswirkungen der Freigabe von Cannabis: Während einige negative Auswirkungen belegen, gibt es in anderen neutrale oder sogar positive Sicherheitseffekte.

Die Frage nach angemessenen Grenzwerten

Im Zuge der angestrebten Legalisierung und Entkriminalisierung von Cannabis wird aktuell auch eine Debatte um einen angemessenen Grenzwert – gemessen über einen Biomarker wie THC – ebenso emotional wie unwissenschaftlich geführt, je nachdem, ob man nun für oder gegen eine Cannabislegalisierung ist. Bei nüchterner Betrachtung des Sachverhalts wird man aber kaum um die Erkenntnis herumkommen, dass lege artis gar kein „angemessener“ Grenzwert zu bestimmen ist. Dazu kann eine Reihe von Gründen angeführt werden:

  • Die Toxikokinetik von THC ist äußerst komplex und Konzentrationszeitverläufe sind weder vorhersehbar noch berechenbar.
  • Für den Hauptwirkstoff des Cannabis THC existieren keine eindeutigen Konzentrations-Wirkungs- Beziehungen. Das bedeutet: Es besteht keine klare Beziehung zwischen der konsumierten Dosis und der daraus resultierenden Konzentration von THC im Blut bzw. Serum einerseits und der Auswirkung auf z. B. die Fahrsicherheit andererseits.
  • Meist wird die Dosis-Wirkungs-Beziehung über Korrelationen ermittelt. Zur Festlegung eines Grenzwertes erscheint diese Methode ungeeignet. Es müsste vielmehr überprüft werden, ab welchem Wert ein relevanter Effekt einsetzt. Dies ist mit realistischen Dosierungen unter realistischen Bedingungen sowie geeigneten statistischen Methoden zu überprüfen.
  • Ein Vergleich von Alkohol und Cannabis zur Etablierung analoger Grenzwerte führt in die Irre und bedeutet, Äpfel mit Birnen zu vergleichen.
  • Ein grundsätzliches Problem ist es, dass ein Biomarker, wie z. B. THC, keine Diagnostik ersetzt, sondern lediglich diagnostisches Hilfsmittel ist.
  • Hinzu kommen Messunsicherheit und -fehler des Biomarkers, z. B. technisch bedingte Fehlerquellen, Störfaktoren im Blut, zeitlich bedingter Abbau des Analyten.
  • Es erscheint in der einschlägigen Literatur als unbestritten, dass es eines sehr hohen analytischen Aufwands bedarf, für THC einen sicheren analytischen Nachweis ab 1 ng/ml zu führen. Der „wahre“ Wert eines Messergebnisses liegt immer innerhalb eines Bereiches von „Messwert +/– Messunsicher- heit“. Zur Abschätzung des „wahren“ Wertes wird ein Konfidenzintervall festgestellt (in der Regel 95%): ein Maß dafür, dass der Wert einer gemessenen Größe mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit im angegebenen Bereich liegt. Das kann bedeuten, dass bei einer gemessenen Konzentration von z. B. 1,0 ng/ml THC (also dem aktuell gültigen Grenzwert) die Schwankungsbreite des tatsächlichen Wertes zwischen 0,48 ng/ml und 1,52 ng/ml liegt. Ein Grenzwert wird aber als harter Cut-off-Wert betrachtet, bezieht sich also auf einen absoluten Messwert ohne Berücksichtigung einer Messunsi- cherheit. Damit ergibt sich ein weites Feld falsch- positiver und falsch-negativer Ergebnisse.
  • Für wen sollte ein „Grenzwert“ überhaupt gelten: Gelegenheits- oder regelmäßige (ggf. hochdosiert) Nutzer? Wie Abbildung 1 zeigt, ergeben sich jeweils unterschiedliche Konzentrationszeitverläufe.

Die Definition eines Grenzwertes beruht auf wissenschaftlichen Beobachtungen und Erhebungen und bildet einen gewissen wissenschaftlichen Konsens ab, auf den sich eine Mehrheit der wissenschaftlichen Gemeinschaft nach vereinbarten Kriterien und Gesichtspunkten einigt. Ein Grenzwert ist also mit anderen Worten im Grunde nichts anderes als eine wissenschaftliche und im weiteren Sinne auch gesellschaftliche Konvention. Ein Grenzwert ist demnach auch solchen Konventionen unterworfen und kann entsprechend einmal höher oder einmal niedriger liegen. Im Kontext THC war einer der Gesichtspunkte, dass der Grenzwert einen „vernünftigen“ Abstand zum Nachweisgrenzwert (sic!) haben solle. Was hier „vernünftig“ bedeutet, ist stark umstritten, wie uns ein Blick in die einschlägige Literatur lehrt, die hier nicht repliziert werden kann. Die Festlegung eines THC-Grenzwertes beruht also nicht auf einer fundierten Wissensbasis, sondern ist eher vom Zeitgeist abhängig, also etwa der Frage: Haben wir es eher mit einer liberalen oder eher restriktiven Politik zu tun?

Fazit

Aus der Literatur zur Legalisierung von Cannabis lassen sich lediglich heterogene Ergebnisse ableiten. Deshalb ist es sinnvoll, auf die erwähnten Metaanalysen – insbesondere auf Rogeberg et al. (2018) gestützt – zurückzugreifen. Diese legen nahe, dass sich aus dem allgemeinen Zusammenhang von Cannabis und Unfallrisiko ein moderat erhöhtes Gesamtunfallrisiko ableiten lässt. Da das OR von 1,32 jedoch nahezu vernachlässigbar ist, darf auf Basis der berichteten Studienergebnisse gefolgert werden: Cannabis leistet keinen signifikanten Beitrag zum Gesamtunfallgeschehen.

Wichtig ist an dieser Stelle der Hinweis, dass aus dem leicht erhöhten OR nicht auf ein individuelles Unfallrisiko geschlossen werden kann. Dies ist aus verschiedenen Gründen nicht möglich. Insbesondere handelt es sich beim Unfall um einen statistischen Erwartungswert einer Zufallsvariable, der nicht zuverlässig geschätzt werden kann. Es gibt keine validen Merkmale und Methoden für eine zuverlässige Vorhersage, stattdessen wird eine große Zahl von „falsch positiven“ Urteilen generiert.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Konsum von Cannabis während der aktiven Teilnahme am Straßenverkehr als unbedenklich betrachtet werden kann. Dies gilt insbesondere für regelmäßige Cannabisnutzer mit hohen Dosierungen. Laut vorhandener Evidenz stellen sie ein Sicherheitsrisiko im Straßenverkehr dar.

Aufgrund der Einschränkung, dass Verkehrssicherheit und Cannabiskonsum immer nur mit dem Unfallkriterium verknüpft werden, ohne dass – wie die untersuchten Studien zeigen – nachgewiesen werden kann, dass zum Unfallzeitpunkt tatsächlich eine cannabisbedingte Beeinträchtigung vorlag, ergibt sich die Notwendigkeit, die Bewertung der Verkehrssicherheit stärker am normalen, alltäglichen Verhalten auszurichten. Es ist empfehlenswert, Ereignisse vor einem Unfall systematisch zu untersuchen und dabei das cannabisbezogene Normalverhalten besonders zu berücksichtigen. Untersuchungen sollten bevorzugt in realen Lebenssituationen durchgeführt werden, um die Diskrepanz zu häufig überbewerteten, aber in jedem Fall theoretischen Laboreffekten hinsichtlich der Wirkung von Cannabis zu überwinden.

In methodischer Hinsicht wäre es interessant, den Einfluss von THC-Gehalt und Cannabisintoxikation auf die Fahrleistung von Gelegenheits- und Dauernutzern mit Hilfe von psychologischen Fahrverhaltensbeobachtungen zu untersuchen. Dadurch könnte eine realistische Bewertung der tatsächlichen Gefährdung der Verkehrssicherheit durch Cannabiskonsum ermöglicht werden. Die Fahrverhaltensbeobachtungen sollten in einem geschützten Verkehrsraum durchgeführt werden, der möglichst nah an der Verkehrsrealität liegt. Geeignete Maße zur Überprüfung der Cannabiswirkung sollten verwendet und angemessene Versuchspläne erstellt werden. Dabei sind eine sorgfältige Formulierung der zu untersuchenden Hypothesen sowie eine umfassende Auflistung der abhängigen und unabhängigen Variablen notwendig. Eine testpsychologische Überprüfung der psychophysischen Leistungsfähigkeit der Probanden wäre ergänzend sinnvoll.

Dozent Wolfgang Fastenmeier

Prof. Dr. Wolfgang Fastenmeier


Prof. Dr. Wolfgang Fastenmeier ist Professor für Arbeitspsychologie und die Psychologie des Verkehrswesens an der Psychologischen Hochschule Berlin (PHB) und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie e. V. (DGVP). Seine Arbeitsschwerpunkte sind Verkehrssicherheit, Verkehrs-, Arbeits- und Ingenieurpsychologie.


Diesen und weitere spannende Artikel finden Sie im Report Psychologie.

 

Weitere Beiträge

Angst vor dem Autofahren
Verkehrspsychologie

Angst vor dem Autofahren

mehr lesen
Verkehrspsychologin/Verkehrs­psychologe werden – aber wie?
Verkehrspsychologie

Verkehrspsychologin/Verkehrs­psychologe werden – aber wie?

mehr lesen
PTK Punkte im Fokus - Durch Fort- und Weiterbildung immer auf dem aktuellsten Stand
Klinische Psychologie / Psychotherapie

PTK Punkte im Fokus - Durch Fort- und Weiterbildung immer auf dem aktuellsten Stand

mehr lesen

zum Magazin